29. MÄRZ 2020

19:13 Uhr

Wer fährt mit den Öffis, wenn die gesamte Gesellschaft stillsteht? Nur die, die unbedingt müssen. Das zumindest ist die Erkenntnis meines heutigen Lokalaugenscheins entlang des Gürtelabschnitts der U6. An normalen Arbeitstagen wäre es um diese Uhrzeit nahezu unmöglich, einen Sitzplatz in den chronisch überfüllten Zügen zu ergattern. Aber was ist in diesen Tagen schon normal,

Die Menschen fürchten sich vor zu viel Nähe. Das ist meine zweite Erkenntnis in diesen Stunden, denn die wenigen Menschen, die ich in der U-Bahn antreffe, gehen mir aus dem Weg. Aufkleber überall am Boden und an den Türen erinnern daran, zwei Meter voneinander entfernt zu bleiben. Der Geruch von Desinfektionsmittel ist allgegenwärtig. Alles scheint sauber und sicher.

Der Waggon, der mich zur Station Thaliastraße bringt, ist menschenleer. Ein Privatzug für mich allein. Nach der Ankunft werden die Türen zentral geöffnet. Ich steige auf den Bahnsteig und blicke in eine verwaiste U-Bahn-Station. Auf der gegenüberliegenden Seite fährt ein weiterer Geisterzug ein. Mir kommt die Anfangssequenz meines Lieblingswestern in den Sinn. Nur bin ich weder in Flextown, noch warten drei angeheuerte Killer auf mich. Und Mundharmonika spielen kann ich schon gar nicht. Als der Zug auf der anderen Seite abgefahren ist, stehen da wirklich zwei schwarz gekleidete, junge Männer. Unsere Blicke treffen sich flüchtig. Auch sie scheinen überrascht, mich hier stehen zu sehen.

Ausgerüstet mit einer Kamera und einem Stativ begebe ich mich in die unteren Etagen der Station Thaliastraße. Tauche unter, in eine dystopisch anmutende Gegenwelt. Kein Lärm, keine hektische Betriebsamkeit, keine flirrenden Werbeflächen. In den Gängen und Hallen herrscht eine beängstigende, aber unwirkliche Endzeitstimmung. Unweigerlich entsteht ein beklemmendes Gefühl. Hat sich das Virus an diesem Ort festgesetzt? Ist der Erreger bereit zum Angriff? Ich trete geistesgegenwärtig die Flucht an. Und bin mit dieser Entscheidung nicht allein.

Niemand weiß, wie es weitergeht. Die Stimmung schwankt zwischen Hoffnung und Verzweiflung.